Audun Lindholm im Gespräch mit Lars Jakobson.
Veröffentlicht in Vagant 2/2006. Deutsche Übersetzung von Thomas Fechner-Smarsly. Norsk versjon her.
In der Erzählung „Männesker jag känt som aldrig blev poeter“ (Bekannte, die nie Dichter wurden) aus „Berättelser från djur och andra“ (2004; Erzählungen von Tieren und Anderen) gibt es ein Zitat, das einen Zugang zu Lars Jakobsons Werk bieten kann: Dennoch erscheint es klar, dass die Geschichte heute unsere privaten Melodramen infiltriert. Die Gewalt träumt.“ Das Zitat wird John Ashbery zugeschrieben – in unserer Welt ein berühmter New Yorker Dichter, in der Erzählung ein innovativer Kriminologe. Jakobsons neun Bücher, von seinem Debut „Vinterkvarteret“ (1985) bis zu „Vid den stora floden“ (2006), einem Roman mit zwei parallelen Textsträngen über eine abtrünnige CIA-Agentin, die auf ihrer Flucht im Irak-Krieg landet, haben ihren Ausgangspunkt oft in dokumentarischem Material, das bearbeitet, fortgeschrieben und in neue Zusammenhänge gesetzt wird.
Die Handlung spielt dabei häufig an geografischen und subkulturellen Rändern wie in zeitlicher Nähe zu Ereignissen der jüngeren Vergangenheit: den Nürnberger Prozessen, dem Mord an John F. Kennedy, dem Angriff auf das World Trade Center.
Jakobsons Schreibweise ist dabei konkret und knapp, fast lapidar (manche würden sie ‚hard-boiled’ nennen), sie scheint zu versprechen, dass die Welt, von der der Text erzählt, eine gegebene Wirklichkeit ist, über die man sich in einer Sprache verständigen kann, welche Autor und Leser teilen. Aber parallel dazu, dass sich die Prosa in zunehmend abweichende und rätselhafte Partien hinein bewegt, erweist sich die Textwirklichkeit als eine andere als die offensichtliche – eine Rätselhaftigkeit, die durch Perspektivverschiebungen, hineinmontierte Entlehnungen und gradweise Abweichungen von gängigen Vorstellungswelten entsteht.
„Kanalbyggarnas barn“ (1997; dt.: Kinder der Nacht, 1997) beginnt als Briefroman über ein Paar, das zu Anfang des 20. Jahrhunderts auf einen einsamen Herrenhof in der schwedischen Provinz zieht. In einer Montage aus Schauerroman und quasiwissenschaftlichen, parapsychologischen Theorien findet in der Erzählung eine Verschiebung ins Phantastische findet statt. „I den röda damens slott“ (2000), Jakobsons umfangreichstem Roman [bis „Vännerna“, 2010; TFS] spielt vor dem Hintergrund kontrafaktischer Ereignisse wie der Kolonisierung des Mars durch die USA und gewaltiger sowjetischer Maschineninseln –beide Projekte verschlingen große Ressourcen in der Machtbalance der Blöcke nach dem Krieg. Mehrere Personen im Roman waren oder sind noch auf dem Mars, wo man, in Jakobsons Fiktion, dabei ist, eine ausgestorbene Kultur auszugraben.
Im Jahr 2003 erschien „Stjärnfall“, ein Buch mit drei Essays von Jakobson, Steve Sem-Sandberg und Ola Larsmo über Traditionen und Schreibweisen von Science Fiction. Jakobsons Beitrag ist eine kenntnisreiche und gut geschriebene Einführung in die Genealogie der Gattung, die zudem einen Schlüssel zu seinem eigenen Werk darstellt, was die amerikanische Kultur und ihre Verwendung des Repertoires phantastischer Literatur betrifft.
[Anmerkung: Das Interview wurde im März 2006 geführt, kurz vor dem Erscheinen von „Vid den stora floden“ (Am großen Strom) und der Verleihung des Selma-Lagerlöf-Preises an Jakobson.]
AL: Beginnen wir mit einem Umweg. In einem Essay für Stig Sæterbakkens Zeitschrift „Marginal“ (Nr. 1, 1995) sprichst du über William Faulkners Werk als Beispiel für die Möglichkeiten der Fiktion. Da weist du auf die Karte des Yoknapatawpha County in „Absalom, Absalom“ hin, mit der bekannten Inschrift: „William Faulkner, sole owner and proprietor“?
LJ: „Absalom, Absalom“ ist wohl das ‚umwälzendste’ [?] Buch, das ich gelesen habe. An der Oberfläche ist Faulkner hier der große Südstaaten-Schilderer, als der er oft hingestellt wird, aber schon bald beginnt sich dieses Etikett abzulösen, wenn die Rassenproblematik und das Bürgerkriegserbe zur bloßen Kulisse eines größeren Schicksalsdramas werden. Der Student Quentin Compson erzählt seinem Zimmerkameraden in einem stetig wachsenden Gewebe von seiner Heimatstadt, dem mysteriösen Thomas Sutpen und seiner Familie. Als Leser sieht man sich gezwungen, Quentins Kenntnisse in Frage zu stellen: Das alles kann er doch wohl nicht wissen? Darüber, was die Leute gesagt und gemeint, gedacht und gewusst haben? Wenn dann auch noch der Zimmerkamerad, der überhaupt nichts über diese Gegend weiß, das Erzählen übernimmt, erkennt man, dass diese ganze Welt etwas ist, was die beiden jungen Männer untereinander entstehen lassen, lediglich gegründet auf ein paar Namen, Gerüchte und fragmentarische Anekdoten. Dabei kann es sich um berechtigte Vermutungen handeln, aber genau so gut um vollkommene Fehldeutungen. Das ist gar nicht so wichtig. Wichtig ist vielmehr, dass sie Erfindungen sind, und dass diese Schöpfungen den Roman ausmachen. In dieser Erzählung fragt der Kamerad Quentin auch, warum er die Südstaaten hasst. Quentin verneint das augenblicklich, steht dabei aber unter Anspannung. Ein Text wie „Absalom, Absalom“ konnte nur von einem Schriftsteller geschrieben werden, der weiß, dass die Literatur sowohl eine Welt entdecken kann, aber auch allmählich offen legen, dass diese nicht in der bekannten Welt aufgeht.
AL: Über die Welterfindung in der Literatur hast Du auch im Essay „Ombord på de stora skeppen“ (An Bord der großen Schiffe) in „Stjärnfall – Om SF“ (Sternenfall – über SF) geschrieben, einer Essaysammlung mit Beiträgen von Dir, Steve Sem-Sandberg und Ola Larsmo. Darin umkreist Du die Science-Fiction-Tradition als einen, wie Du es nennst, Megatext, also ein kollektives Textkorpus und zugleich als eine Schreib- und Lesweise. Es hat den Anschein, als ob Du die SF als eine typisch amerikanische Tradition abgrenzt und sie darüber hinaus als abgeschlossen betrachtest, beginnend mit der ersten Nummer der Zeitschrift „Amazing Stories“ 1926 bis zum Jahr 1984, als William Gibsons „Neuromancer“, Octavia Butlers „Bloodchild“ und Samuel Delanys „Stars in my pocket like grains of sand“ erschienen.
LJ: Wenn man eine literarische Strömung wahrnimmt und zu beschreiben versucht, kann man Periodisierungen wie diese benutzen, aber vor allem handelt es sich um eine Wahl der Perspektive. Man könnte ja z.B. eine surrealistische Periode abgrenzen, ohne deshalb das Wort ‚surrealistisch’ als ausschließliche Bezeichnung für sie vorzubehalten.
Dass Schriftsteller ihre eigenen Welten bauen, ist ein Gemeinplatz. Das Entscheidende jedoch, und das, was SF von anderer phantastischer Literatur unterscheidet, ist meiner Meinung nach, die Art und Weise, wie man sich zu dem verhält, was man schafft oder liest. Diejenigen, die es nicht gewohnt sind, SF zu lesen, und sich auch nicht die Mühe machen, sich das Genre anzueignen, lesen oft gewisse Elemente in diesen Texten symbolisch oder allegorisch. Diese Lesweise hängt mit der utopischen Tradition zusammen, mit Werken wie Thomas Morus’ „Utopia“ und Orwells „1984“, wo es eine didaktische Parallelität gibt zwischen einer Wirklichkeit, die beleuchtet werden soll, und einer, die im Text beschrieben oder: hervorgeschrieben wird. Im besten Fall wird ein Leser, der mit solchen Erwartungen an einen SF-Text herangeht, etwas vermissen, aber in vielen Fällen sieht man Leser, die sagen, ‚dies ist eine schlechte Allegorie, dies eine schlechte Metaphorik’, und damit – ‚dies ist schlechte Fiktion’.
Ich meine, das Genre hat so klare sprachliche Charakteristika und Formen, sich seinem Stoff gegenüber zu verhalten, dass man über manche Bücher sagen kann, ‚dies ist SF’, während man über andere sagen kann, dass sie keine SF sind, auch wenn sie mit denselben Requisiten arbeiten. Im Essay behaupte ich dies z. B. von Harry Martinsons „Aniara“. Es gibt viele Bücher, die SF-Kunstgriffe verwenden, ohne einen SF-Zugang zu ihrem Material zu haben.
AL: Im Essay räumst du dem Erzähler Samuel Delany den meisten Platz ein. Seine Bücher waren bereits seit den 70er Jahren wichtig für Dich?
LJ: Seine Prosa, ja. Aber es war immer ein Problem, Delanys Essays zu bekommen. Erst kürzlich fand ich über das Internet seine Essaysammlung „Starboard Wine“ in einem Antiquariat in Philadelphia. Viele der kritischen Schriften Delanys habe ich im Laufe der Jahre quasi durch die Hintertür gelesen, durch Hinweise von anderen. Einige seiner Gedanken sind Gemeingut geworden, über Formulierungen wie „the door dilated“ oder „her world exploded“. Die letztgenannte würde in den meisten literarischen Texten als eine verbrauchte Metapher für ein subjektives Erleben gelesen werden, aber in einem SF-Text kann sie auch buchstäblich gelesen werden.
Doch das, was Delany über SF als eine eigene Kategorie sagt, reicht wesentlich weiter. Es ist eine Klischeevorstellung, dass man mit einer Gattung aufgewachsen sein muss, um sie zu verstehen. Das muss nicht so sein – unsere Aufgeschlossenheit hält lange an. Delany selbst hatte nicht allzu viel SF gelesen, als er seine Erzählungen zu schreiben begann. Mit Harlems schwarzer Mittelklasse und New Yorks akademischem Milieu als Hintergrund sah er in der Gattung eine Möglichkeit, alternative Gedanken zu entwickeln, wie in einem Identitätslabor: Wie würde eine Welt aussehen, in der Rasse nicht dieselbe Rolle spielt wie in unserer; eine Welt, in der Geschlecht nicht länger dieselbe Bedeutung hätte? SF verschaffte ihm das Idiom, in dem sich eine solche Welt gestalten ließ.
Warum taugte die ‚mainstream’-Literatur dafür nicht? Weil diese Literatur Wiedererkennbarkeit und Identifikation mit dem einzelnen Subjekt in den Vordergrund stellt. Im Essay „The Semiology of Silence“ schreibt Delany: „Je merkwürdiger oder phantastischer und surrealer etwas in der Literatur erscheint, desto mehr nimmt man an, dass es sich um das Seelenleben und die Psychologie dreht.“ Demgegenüber stellt SF das Objekt in den Vordergrund – eine Welt, eine Gesellschaft, eine sprachliche Kultur.
Delany kann auf eine breite Lektüre zurückgreifen, und seine Essays sind ungeheuer inspirierend. Aber ich will damit nicht sagen, dass ich seine semiologischen Raisonnements als ein fertiges Theoriegebäude benutzen kann. An einigen Stellen treibt er den Gedanken der Trennung und der Verschiedenheit zu weit, etwa wenn er jene ‚mainstream’-Literatur nicht einbezieht, die versucht, andere Wege zu gehen. Zum Beispiel besitzen die jüngsten Romane der Finnlandschwedin Monika Fagerholm und der Schwedin Pauline Wolff ganz eindeutig Welten erzeugende Qualitäten vom Zuschnitt der SF. Und das ist wohl der springende Punkt in meinem eigenen Essay, dass das, was SF zu guter Literatur macht, dasselbe ist, was alle gute Literatur auszeichnet.
Später wurde ja Delanys literarisches Werk von seinem essayistischen Werk aufgesogen. Am besten ist er in den „Nevèryon“-Büchern (dt. Nimmerya), in denen eine beinahe verwzeifelte Balance zwischen Erzählung und Essay herrscht. Vor allem wie er die heraufziehende AIDS-Epidemie in der Erzählung „The Tale of Plagues and Carnivals“ behandelt. Ungefähr dort findet der Aufbruch statt: er legt seine Kraft in andere Projekte hinein. Und in gewisser Weise hat SF für Delany ihre Möglichkeiten erschöpft. Bei diesem Abschluss geht es nicht so sehr um literarische Fragen, sondern vielmehr um Publikumserwartungen und Distribution. Wenn SF sich dem ‚mainstream’ öffnet, gehen die offenen, erprobenden Qualitäten des Genres verloren, das besondere Merkmal verschwindet und die Welt verschließt sich. Die Freiheit, die er einst in SF fand, findet er nun in avancierter Essayistik und Pornografie. Daran ist nichts verkehrt. Und es ist auch kein Widerspruch: ein mächtiger 90-Jahre-Text wie Delanys „The Mad Man“, über AIDS, ‚cruising’ und sexuelle Kultur in New York entlehnt auf sehr elegante Weise sein erzählerisches Muster von dem kleinen SF-Roman „Empire Star“ aus den 60er Jahren.
AL: Im Essay betonst Du, SF unterscheide sich von der Literatur, die nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg die zivilisatorische Niederlage zum Ausgangspunkt nahm. SF sei selten technophob, und selbst in seinen kritischen oder paranoiden Varianten handele es sich um eine schöpferisch bejahende Literatur. Die Philosophin Donna Haraway erhebt SF zu einem literarischen Feld, auf dem das Verhältnis zwischen Mensch und Technologie in einer notwendigen Weise spekulativ behandelt werde. Damit wird SF auch zum Zeitdokument über Mentalitäten, das sich von denen unterscheidet, wie wir sie in anderen literarischen Traditionen des 20. Jahrhunderts finden. Du zitierst eine Tagebuchnotiz Ernst Jüngers aus dem Jahr 1942: „Die Farbe der Blumen am lebensgefährlichen Klippenrand verblasst nicht dadurch, dass sie nur eine Handbreit vom Rand des Abgrunds entfernt ist.“ [Orig.-Stelle suchen]
LJ: Haraways Grundgedanke fand sich bereits bei Robert Heinlein zu Beginn der 1950er Jahre. Meiner Meinung nach wird die Fokussierung der SF auf technologische Aspekte stark übertrieben; SF verhält sich ja spekulativ zum Allermeisten. Und sie tut es mit einem optimistischen Glauben an die Möglichkeiten des Menschen, der auf keinerlei Weise idealistischer ist als jener Pessimismus, den wir so oft in der ‚gängigen’ realistischen Literatur finden. ‚Realismus’ ist ja das Ergebnis eines erlernten Lesemusters: Wir erkennen die Dinge wieder, das Erzählte schmeichelt unseren Vorurteilen, und wir akzeptieren es als ‚wirklichkeitsnah’, selbst wenn dessen Grund idealistische Überzeugungen wie zum Beispiel Katharsis sein können – es soll in seinem eigenen Leben der Leser sich aus Misere und Zynismus zu einer neuen Entschlusskraft erheben. Aber was danach folgt und wohin man anschließend gehen soll, darauf zu antworten schafft diese Art Kunst und Idealismus nicht.
Da ziehe ich Jüngers Credo vor, denn seine Haltung weist darüber hinaus, sie begnügt sich nicht damit, abzubilden und zu exemplifizieren. Delany sagte: „Wenn SF überhaupt eine Funktion erfüllt […], dann die, uns Bilder unserer Zukunft zu geben. […] Ihre andere Funktion […] besteht darin, uns Werkzeuge zur Verfügung zu stellen, um Fragen an diese Bilder zu stellen.“ Ich würde das gern umformulieren und SF durch Kunst, Zukunft durch Möglichkeiten ersetzen.
AL: Eine Besonderheit der SF, die alle drei Essays in „Stjärnfall“ betonen, ist das Bestreben, einen Pararaum – oder ‚paraspace’ zu erreichen, einen Punkt, an dem das Wiedererkennen abgekoppelt wird – und mit einem Mal dem Leser die [eigene] Wirklichkeit des Textes aufgeht. Der SF-Theoretiker Darko Suvin definierte Pararaum als „Moment, in dem Wissen versagt oder radikal umgedeutet werden muss“, doch schaffe dieser „Augenblick des Unwissens“ ein Gefühl der Klärung, ja Aufklärung. Was unterscheidet diese Wirkung von, beispielsweise, der Epiphanie oder Peripetie?
LJ: Ja, das ist die große Frage. In unseren drei Essays versuchen wir keine Definition der SF – statt dessen wollen wir beschreiben, was SF macht. SF baut autonome Welten. SF strebt nach Konkretisierung. SF erzählt aus der Innenperspektive der erschaffenen Welt, SF erzählt für einen Leser, der auf die ein oder andere Weise diese Welt teilt. In Octavia Butlers „Bloodchild“ zeigt die Anrede in der Erzählung – und nur die Anrede –, dass die Ereignisse, die nacherzählt werden, für die menschliche Kolonie auf T’lics eine entscheidende Bedeutung bekamen. In dieser Art könnte ich eine Reihe von Dingen, die SF macht, aufzählen und weiß dabei, dass nichts davon eigentümlich für SF ist – aber dass SF sie mit größerer Intensität und Konsequenz ausführt.
Dazu gehört die Etablierung eines Pararaumes. Samuel Delany prägte diesen Begriff 1987 in einem Interview mit „SF-Eye“ („Some Real Mothers…“), wo der Begriff in ein beinahe sokratisches Gespräch eingeflochten wird. Der Pararaum hängt zusammen mit den Bildern der Zukunft und den Werkzeugen, mit denen man Fragen an diese Bilder stellt. Es ist ähnlich wie bei Borges, wenn er sagt, dass alle Erzählungen ihre Gegen-Erzählung einschließen müssen. In der SF nimmt diese Gegen-Erzählung die Form einer Freizone an, eines physischen oder mentalen Ortes, den die Personen besuchen können und der mittels einer verdichteten Sprache hervorgebracht wird, die im Kontrast steht zur übrigen Sprache der Erzählung. Der Pararaum nimmt in der Regel sehr wenig Platz im Text ein, manchmal nur eine Szene, aber er ist von großer Bedeutung für die Gesamtauffassung der Geschichte.
Wovon Suvin spricht, verstehe ich im Grunde nicht, und ich tue es selten, wenn er theoretisiert. Wissen versagt oder wird radikal umgedeutet? Und man hat zwar nichts verstanden, bekommt aber dennoch ein Gefühl von Aufklärung? Ich hätte das Gegenteil gesagt: Der Pararaum verhilft uns dazu, die Erzählung einzusehen. Und das ist dann nicht nur ein Gefühl, sondern es trifft uns mit voller Kraft.
Aber selbst wenn der Pararaum ein markantes Element der SF ist, so ist es doch nicht ihr allein vorbehalten. In anderer Literatur finden sich Träume, Rausch, psychotische Zustände, durch die sich den Personen ihre eigenen unbekannten Beweggründe eröffnen. Im genannten Interview spricht Delany über psychoanalytische Züge in Erzählungen von Heinlein, Theodore Sturgeon, Roger Zelazny – als Beispielen für den Pararaum. Ähnliche Passagen finden sich auf dem „Magischen Theater“ in Hesses „Steppenwolf“. Ich sehe da keinen großen Unterschied.
AL: Ola Larsmo fragt sich in seinem Essay „NU: Rigel i Orion, brinnande med blåhvitt sken“, ob es diese Obsession für den Pararaum ist, die zum schlechten Ruf von SF geführt hat. Er betrachtet den Pararaum bzw. ‚paraspace’ als einen sublimen Effekt, etwas Überrumpelndes oder Überwältigendes, und er behauptet, dass das Sublime in der Regel etwas Unpassendes sei, heutzutage allerdings aus der anerkannten Literatur verwiesen.
LJ: Ich glaube eher, dass es die massenkulturellen Vertriebswege und die grellen Umschläge der SF-Sammlungen und –Magazine waren, die der SF ihren schlechten Ruf eintrugen. Larsmos Überlegungen setzen eine Vertrautheit mit dem Genre voraus, über welche Kritiker der etablierten Literatur nie verfügten. Damit soll nicht gesagt sein, dass SF nicht ein kraftvoller Träger des Sublimen ist. Und ich glaube auch nicht, dass Larsmo mit der Behauptung falsch liegt, dass das Sublime als unpassend betrachtet wird. Es gilt für das gesamte literarische Feld, nicht nur für SF.
AL: SF-Topoi haben nach und nach größeren Spielraum in der Hochkultur erlangt. Bruce Sterling hat für diese Entwicklung den Ausdruck ‚sliptstream’ geprägt, aber auch andere haben darauf hingewiesen, dass SF und die amerikanische Literatur der Postmoderne konvergieren – u.a. wurde Thomas Pynchons „Gravity’s Rainbow“ 1973 für den ansonsten gattungstreuen Nebula-Award nominiert. Und ein kulturkritischer Philosoph wie Fredric Jameson behauptet, SF sei diejenige Literatur, die in den vergangenen zehn Jahren am konzentriertesten und einfallsreichsten paradigmatische Züge und Veränderungen in der westlichen Gesellschaft aufgegriffen habe, und dass sie zudem eine utopische Dimension eröffnet habe, die der Literatur des Spätkapitalismus meist fehle. Du selbst hast angedeutet, dass die Bewegung des Genres vom marginalen Status ins Zentrum hinein dazu geführt habe, dass sie nicht länger die Freiheitszone sei, die sie einmal war.
LJ: Das ist schade, aber so kam es. Die Mainstream-Literatur wurde durch SF nicht bereichert, statt dessen wurde SF vom mainstream erstickt. Es wird immer noch eine große Zahl von dicken Romanen und Romanserien geschrieben, die die Bezeichnung SF tragen, alle ordentlich geschrieben, traditionell erzählend, episch breit und meistens göttlich langweilig. Und dann bekam ich eine e-mail mit der Mitteilung, dass Octavia Butler tot sei. [2006]
AL: Mit Blick auf Deine eigene Abgrenzung zum Genre: Würdest Du den Ausdruck Science Fiction für Teile Deines eigenen Werks benutzen?
LJ: Nein. Wir hatten im Verlag eine Diskussion darüber, ob wir eine solche Genrebezeichnung auf den Umschlag von „I den Röda Damens slott“ setzen sollten, aber ich habe allzu großen Respekt vor den SF-Schriftstellern, um zu behaupten, ich wäre einer von ihnen. Da gibt es eine Reihe von Frauen und Männern, die innerhalb des Genres schrieben lange, bevor es ‚chic’ wurde und ungefährlich für Feuilletonisten und Schriftsteller, sich in der Populärkultur herumzutreiben. Aber ich wäre froh, ja stolz, wenn jemand das Buch einen SF-Roman nennen würde, auch wenn ich Schwierigkeiten habe, mich selber als SF-Autor zu betrachten. Umgekehrt könnte ich sagen, dass ich selber durch SF schreiben gelernt habe: ich glaube, dass meine Schreibweise in allen Büchern SF-artig war.
AL: In einer Schlussnotiz zu „I den Röda Damens slott“ erfährt man, dass der Roman „in dasselbe Gebäude oder dieselbe Legierung sich fügt wie die Erzählung „Kandidat“ in „Hemsökelser“ (Heimsuchungen) und der Roman „Kanalbyggarnas barn“ (Kinder der Nacht). Was ist damit gemeint?
LJ: Die Texte stehen für sich, und als Leser wird man sie sicher als eigenständig erleben, selbst wenn Teile in „Kanalbyggarnas barn“ (Kinder der Nacht) auf „I den Röda Damens slott“ vorausweisen. In meinen Augen sind sie jedoch Schritte in der Entwicklung einer Schreibweise. Ich mochte die Erzählweise in „Kandidat“, diese Mischung aus Textfragmenten und Zitaten – dass es auf eine Art beginnt und auf eine andere endet. Das kehrt in diesen Texten wieder: „I den Röda Damens slott, das über mehrere hundert Seiten als Schilderung einer fremden Welt erfahren wird, endet auf einem Friedhof, wo man einige Umstände um den Tod der Mutter des Erzählers begreift. Und wenn man dann im Text zurückgeht, findet man Stelle um Stelle, die darauf verweisen. In „Kanalbyggarnas barn“ unterzeichnet ‚Lars Jakobson’ den Brief, der den ganzen Roman ausmacht. Bereits auf der ersten Seite steht ja: „Ich heiße nicht Karin.“ Doch die Aufmerksamkeit des Lesers lag während der Lektüre anderswo als auf dieser Erklärung. Es gibt im Verlauf der Texte eine Wendung, eine Verschiebung ihrer grundsätzlichen Bestandteile. Das ist wohl der wichtigste Zusammenhang zwischen ihnen.
AL: Diese Verschiebung ist vielleicht am deutlichsten in „Kanalbyggarnas barn“, wo es zum Zusammenstoß verschiedener Texttypen und zum Ineinandergleiten von Erzählperspektiven kommt. Karin, die Hauptfigur, empfindet ihr eigenes Gesicht und ihre Hände als fremd, als wäre sie eine Puppe, als stecke ein anderes Wesen in ihr. Und gleichzeitig hat sie das starke Gefühl, in der Welt eingesperrt zu sein. Dann brechen andere Texte in den Haupttext ein – beispielsweise geht die Beschreibung einer erotischen Situation in mathematische Formeln über. Diskussionen über den Ursprung des Lebens wechseln ab mit Passagen über Mandelbrot-Mengen bzw. Fraktale. Die Teile über Karin und die anderen Teile scheinen sich nach und nach anzunähern. Karin löst sich schließlich aus ihrem Kontext und am Ende reist sie in der Zeit.
LJ: Ja, sie reist 50.000 Jahre zurück, bis zum Untergang der marsianischen Zivilisation. Auch wenn ein Wesen Besitz von ihr ergriffen hat, so bedeutet das für sie keinen Schrecken, sie weiß, was es ist. Es kommt aus ihr. Das ist ein wichtiger Aspekt.
Schon nachdem ich wenige Seiten geschrieben hatte, spürte ich, dass dies sich nicht ohne Anachronismen würde durchführen lassen, ohne Stilbrüche. Also fragte ich mich, ob es daher käme, weil ich und Karin sich in verschiedenen Zeiten befänden, oder daher, dass ich ein Mann bin, dass ich die Geschichte einer Frau nicht völlig auserzählen kann. „Kanalbyggarnas barn“ ist ja sehr viel stärker ein Buch über ein Individuum als „I den Röda Damens slott“ – auch wenn es dort eine Pendelbewegung zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft gibt. Nach fünfzig Seiten hatte ich das Gefühl, dass – sollte ich es auf diese Weise zu Ende führen – ein Pastiche daraus würde. Daran war ich nicht interessiert. Ich löste das Problem der Anachronismen, indem ich den Text ‚kentern’ ließ, und zwar dadurch, dass ich die Diskussion über Fraktale hineintrug. Danach wird der erste Textstrang wieder aufgenommen, und es endet damit, dass es an ‚Lars Jakobsen’ geknüpft und von diesem unterzeichnet wird. Ist also Karin ein Wesen in Lars oder Lars ein Wesen in Karin? Ich glaube, sie sind Aspekte desselben Individuums.
AL: Karin erfüllt nicht die Erwartungen ihrer Umgebung an eine ‚richtige’ Frau: man wirft ihr vor, dass sie keine Kinder bekommen kann, betrachtet sie deswegen als ‚anders’.
LJ: Diskussionen über Kinderlosigkeit in der Literatur sind immer mit bestimmten Erwartungen verbunden. Handelt es sich um eine kinderlose Frau, muss es Trauer sein, eine Tragödie. Aber wenn meine Frau und ich darüber sprechen, geht es nicht um Trauer. Vielleicht verspüren wir Melancholie, weil wir eine bestimmte Erfahrung nicht machen werden. Aber Kinder und junge Menschen sind in unserem Leben ja nicht abwesend. Wir haben viele Freunde mit Kindern – wir erleben sozusagen die besten Seiten der Kinder, und sie unsere.
Es gab auch niemals den Gedanken, einen Roman über Kinderlosigkeit zu schreiben. Entstanden ist er praktisch durch einen tatsächlichen Fall, der in Poul Bjerrres Buch „Spökerier“ (Geistererscheinungen) aus dem Jahr 1947 berichtet wird. Karin [in Kanalbyggarnas barn/Kinder der Nacht] ist die Kusine meiner Großmutter. Als Kind hörte ich davon erzählen, dass sie in ein Zimmer kommen konnte und… [schiebt ein Glas über den Tisch] …Dinge sich bewegten. Vielleicht war sie nur eine frustrierte junge Frau, die, wenn andere wegsahen, Dinge an die Wand warf. Ich weiß es nicht. Doch als ich als Jugendlicher Bjerres Buch las, fand ich, dass wichtige Aspekte darüber, wer sie war, fehlten. Was bedeutete der Altersunterschied zwischen ihr und ihrem Mann? Wie erlebte sie den Umzug aus der Stadt in ein abseits gelegenes Haus auf dem Land? Den Mangel an Umgang mit anderen Menschen? Die Rolle als Hausfrau an einem Nicht-Ort? Und dann, natürlich: die Kinderlosigkeit? Bjerre lässt sie darüber nichts sagen, wahrscheinlich hat er gar nicht gefragt. Wenn man das Buch mit den Erwartungen von heute liest, merkt man, dass etwas fehlt. Eine moderne Fallgeschichte wäre auf eine ganz andere Weise geschrieben.
Bjerre ist auf einem Auge völlig blind, er ist nicht interessiert an Sexualität. Er war einer derjenigen, der die Psychoanalyse in Schweden eingeführt hat, aber paradoxerweise bleibt er völlig verständnislos gegenüber Freuds Betonung des Sexualtriebs. In seinem eigenen System, der Psychosynthese, hat dieser bei weitem nicht denselben Stellenwert, und Bjerre scheint überhaupt Schwierigkeiten zu haben, sich in die sexuelle Orientierung eines Menschen einzuleben. Nichts desto weniger ist es interessant zu lesen, wie ein Wissenschaftler dieses Phänomen betrachtet, der nicht glaubt, dass es sich um Geistererscheinungen handelt, sondern um eine Kraft in der Art von Röntgenstrahlen oder Magnetismus, etwas, das aufgedeckt, beschrieben und quantifiziert werden kann. Es handelt sich um eine der am besten dokumentierten Untersuchungen parapsychologischer Phänomene, die wir besitzen. Doch zugleich hat sie, wenn man genau hinschaut, große empirische Schwächen, weil Bjerre nicht sieht, wie er selbst als Person das beeinflusst, was er erforschen will.
AL: Ist Doktor Riim im Roman der Poul Bjerre in der Realität?
LJ: Ich finde es nicht glücklich, eine wirkliche Person zu nehmen und sie in einen Roman hineinzuversetzen. Dies ist Karins Geschichte und darin ist seine Rolle nicht so wichtig. Aber was ich über Riims Verhältnis zu seiner Frau schreibe, stimmt mit Bjerres Biografie überein. Der Grund, dies hineinzunehmen, lag in der Dimension, die es dem Verhältnis von Karin und ihrem Mann gab.
AL: Das erste abweichende Textstück im Roman beginnt so: „Fraktale können als Berichte über Falten gelten. Fraktale schildern gebrochene oder gefaltete Linien, in einer Dimension zwischen Fläche und normalen Linien oder Kurven. Der Bruch einer Linie ist der Ausgangspunkt von etwas, das man nicht als Linie bezeichnet, sondern als neuen Typ von Objekt – oder ‚Produkt’, wenn man so will: Ein Objekt in der Welt der Mathematiker gleicht häufig einem Produkt, etwas, das erzeugt wird, ehe wir es als Objekt betrachten. Diese Art Objekt nimmt erstaunlich gut an die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Objekt an: das Entgegengeworfene, das wir betrachten oder mit dem wir umgehen.“ [Dt. Ausgabe, S. 78]
Im Laufe des Romans lesen wir mehrere Versionen dieses Abschnittes, außerdem Textfragmente, verworfene Entwürfe, Sätze, in denen gestrichene Worte übernommen wurden – sozusagen Abjekte des Romankörpers, die zwischen den Buchdeckeln erhalten blieben. Auch thematisch arbeitet der Text mit Fragen des Potentials und des Übergangs: wie etwas entsteht, wann wir beginnen, es als selbständige Wesenheit zu betrachten, und wie das gleiche ‚Etwas’ von einer Form in eine andere übergehen kann.
LJ: Ich stellte mir vor, dass, wenn die Anachronismen zum Zusammenbruch von Karins Muster und zu ihrer Verwandlung in Lars führten, die großen Muster der Erzählung dennoch weiter existieren würden. Die Verwandlung geschieht nach und nach, durch das Einfügen aller möglichen Textfragmente, die die thematischen Spuren von Leben, Identität und Kommunikation berühren. Ich habe Notizen aus Zeitungen gesammelt, Zitate aus Romanen und aus wissenschaftlichen Büchern. Am Ende hatte ich hunderte solcher Textstücke auf meinem Schreibtisch liegen. Das Problem ist: Wenn man einen Text wie diesen schreibt, gibt es darin prinzipiell Platz für alles. Am Schluß erscheint es einem, als ob alles zusammenhängt. Doch die Fragmente, die jetzt in „Kanalbyggarnas barn“ enthalten sind, sollen dort auch sein. Auch wenn diese Texte von anderen als mir geschrieben wurden, hängen sie mit dem Rest des Buches zusammen. Manche habe ich verändert, manche genommen, wie sie waren, je nachdem, wie sie zur sprachlichen Linie des Textes passten. Während der Arbeit habe ich mich mit Chaostheorie beschäftigt. Wenn man Fraktale anschaut, sieht man gleichartige Muster wieder und wieder auftreten; sie sind nie gleich, aber sie ähneln einander. Wie fraktal das Buch ist, ist schwer zu sagen. Oft verwechselt man das Chaos mit dem Strukturlosen. Merkwürdig, denn auch in der Entwicklung des Universums kehren die gleichen Prinzipien wieder. Wie Ekelöf sagt: „Alles wurde/wie vorher—Und doch ist alles anders.“
AL: Die Verwendung der Chaostheorie in der Literatur – zum Beispiel bei Schriftstellern wie Pynchon oder Richard Powers – wurde dafür kritisiert, komplizierte Modelle in unverbindlicher Weise einzusetzen. Aber kann man einen Schriftsteller dafür kritisieren, einen wissenschaftlichen Ansatz ‚falsch’ zu verwenden, wenn die wissenschaftlichen Modelle oder die philosophischen Begriffe auf die Ebene der literarischen Form gebracht werden?
LJ: Zuguterletzt steht hier nicht die Chaostheorie im Vordergrund, auch wenn sie ein Impuls war: eine produktive Weise, um den Text aufzubrechen. Aber ich kann der Kritik zustimmen. Es ist so ähnlich wie mit Delanys semiologischen Überlegungen, sie sind inspirierend und ideenreich, aber ob sie der Semiologie als Wissenschaft etwas hinzufügen, bezweifele ich.
AL: „I den Röda Damens slott“ ist ein kontrafaktischer Roman, aber im Gegensatz zu vielen anderen kontrafaktischen Romanen spielt er nur indirekt auf große Weltkonflikte an. Auch das Raumprogramm und die Kolonisierung des Mars, die ja politische Großprojekte sind, werden als historische Nebengeleise beschrieben. Du hast vorher schon die Erzählung „Lee Harvey Oswald“ (in „Menageri“) geschrieben, die sich eng an die Biografie von Oswald anlehnt, bis zum 24. November 1963. Oswald plant, den Präsidenten zu erschießen, ab Kennedy kommt nie in Sichtweite, weil er vorher schon von einem anderen erschossen wird. Oswald stirbt später als Soldat in Vietnam. Auch hier haben die von der tatsächlichen Geschichte abweichenden Ereignisse keine Konsequenzen für die übergeordnete Geschichte.
LJ: Im Grunde hat mich der kontrafaktische Roman nie sonderlich interessiert. Besucht man eine gute SF-Bibliothek, wird man finden, dass gewisse Zeiten der Geschichte dazu verlocken, kontrafaktische Spekulationen in die Welt zu setzen: die spanische Armada, der amerikanische Bürgerkrieg, der zweite Weltkrieg. Im Falle des amerikanischen Bürgerkrieges geht es selbstverständlich um die Frage der Sklaverei. Allerdings ist zweifelhaft, ob die Sklaverei länger Bestand gehabt hätte, unabhängig davon, welche Seite den Sieg davongetragen hätte, und zwar wegen des handelspolitischen Druckes. Die großen Nationen waren ja gegen die Sklaverei.
Es ist diese Trägheit der Geschichte, die mich fasziniert. Die Menschen in „I den Röda Damens slott“ haben die frühen Transistoren und die erste Entwicklung der Raketen erlebt. Beides existierte auch in unserer Welt seit den 1920-er Jahren. Die Entwürfe für den NPN-Transistor wurden 1925 beim kanadischen Patentamt eingereicht. Wir besaßen also die Technologie, doch die gesellschaftliche Entwicklung war nicht für deren Durchsetzung und Ausbreitung bereit. In meinem Roman schon. Da landeten wir 1949 auf dem Mond und der Mars wurde in den 1950er Jahren kolonisiert, ohne dass der kalte Krieg zwischen Ost und West darauf Einfluss nahm. Das Gleichgewicht des Schreckens wurde mit anderen Mitteln aufrecht erhalten. Die Diskussion im Buch über Orson Welles spielt ironisch darauf an, wenn gesagt wird, „hätte er Citizen Kane drehen können, wäre alles anders verlaufen“. Das ist ja ein Gedanke, den jeder hat, wenn man sagt, hätte ich dies oder jenes anders gemacht, wäre das Leben ganz anders verlaufen. Das glaube ich kaum. Das einzelne Ereignis ändert sehr wenig an dir selbst, an deiner Person. Die Trägheit der Geschichte wirkt sowohl auf der Mikro- wie der Makroebene.
AL: In der Rahmenerzählung zu „I den Röda Damens slott“ räumt der Erzähler nach dem Tod des Vaters dessen Wohnung aus. Gleichzeitig arbeitet er an einem Vorwort zu H. Beam Pipers „Omnilingual“ – im Roman ein linguistisches Werk, in Wirklichkeit eine SF-Erzählung. Darin erzählt er, woher seine langjährige Faszination für den Mars stammt, und das, wonach er in seiner Erzählung sucht, ist wohl zugleich die Grundfrage des Romans. Sowohl für den Ich-Erzähler wie für den Roman als solchen wird die Sprachforscherin Martha Dane, die an der Entzifferung einer marsianischen Schrift arbeitet, zu einer zentralen Figur, vor allem im Hinblick auf die Erfahrung von Entdeckungen.
LJ: Die Faszination des Erzählers für den Mars ist in dieser Welt nicht selbstverständlich. Für die Menschen seiner Umgebung hat der Mars nicht notwendigerweise etwas Magisches. Aber für ihn selbst hat der Planet es, und auch für Martha Dane. Dass er eine Obsession für sie hegt, kann nicht nur mit damir erklärt werden, dass er ein ‚Weltraum-Nerd’ ist, es muss eine andere, stärkere Triebkraft geben.
Im Grunde wurde mir das Verhältnis zwischen dem Erzähler und Martha Dane erst im Laufe des Schreibprozesses klar. Es könnte sich um eine Art Projektion handeln. Ich verstand plötzlich, dass Martha Dane die Erde zur gleichen Zeit verließ, als die Mutter des Protagonisten starb. Im Text wurde eine Figur nötig, die große Herausforderungen anpackte. Der junge Mann sieht, dass sie sich in der Expedition in einer Art ‚underdog’-Rolle befindet, dass sie verteidigen muss, woran sie glaubt. Eine solche Identifikation hilft einem wohl im Leben, wenn man selber Outsider ist.
Es gibt hier einen Pararaum, das ist der zweite Teil. Ich schrieb ihn zuerst. Der übrige Roman ist ein Versuch herauszufinden, wie die Welt aussieht, in der sich die Personen befinden, denen wir begegnen. Das Paar [im Buch] kehrt vom Mars zurück, weil der Sohn sich ein Bein gebrochen hat. Die Schwerkraft auf der Erde unterstützt die Heilung des Beins in einer Weise, wie das auf dem Mars niemals möglich wäre; für ihn bedeutet das ein besseres Leben. Man könnte sich die Mars-Episoden des Romans wie eine Art Erinnerungsbilder vorstellen. Aber dann würde er bald zu einem traditionellen psychologischen Roman, in dem das Paar genauso gut aus Südafrika hätte zurückkehren können, es hätte keinen Unterschied gemacht. Statt dessen lautet die Frage: Was ist das besondere am Mars, warum ließ ich das Paar nicht aus einem anderen Land, sondern aus einer anderen Welt zurück kommen? Die Figur, die gewissermaßen diese ganze Welt umgreift, ist der Schreibende mit seiner Faszination für die Weltraumgeschichte und ihre Akteure. Durch ihn bekommt der Text seine ‚Großzügigkeit’ [?], denn all dies hat ja Bedeutung für sein Leben.
AL: Auch die Figur Douglas Ouyangs war von Kindheit an wichtig für den Erzähler. Doug ist ein Brieffreund, den der Erzähler nie getroffen hat, der ihm aber regelmäßig Briefe von verschiedenen Kontinenten geschickt hat – ohne Adresse für eine Antwort. In der Romangegenwart sucht der Erzähler nach Doug, unter anderem im Internet. Dort gibt es viele Spuren, aber so verstreut, dass der Erzähler die Suche aufgeben muss. Doug wird nach einer Art Google-Prinzip beschrieben. Wir, die Leser, werden im Zweifel darüber gelassen, ob Doug existiert.
LJ: Ja, er ist keine feste Gestalt. Wenn du im Netz nach einer Person suchst, tauchen oft eine ganze Menge anderer Menschen auf, die genau so heißen, so dass es unmöglich wird herauszufinden, wer wer ist. Ich selbst glaube, dass der Vater des Erzählers Doug erfunden hat. Der Sohn ist empfänglich für den Gedanken eines Freundes da draußen. Es ist wohl ein Bild für seine Einsamkeit. Tatsächlich benutzt er Altavista für seine Suche, damals die größte Suchmaschine. Das Verb ‚googeln’ gab es noch nicht. Wir leben also schon in der Zukunft.
AL: Kinder sind wichtig in „I den Röda Damens slott“, und es gibt viele Parallelen zwischen dem Erzähler als Jungen und dem Jungen im zweiten Teil des Romans. Deren Kindheiten sind auf je eigene Weise geprägt von Außenseitertum und Mangel. Und sie umfassen etwas für die Welt der Erwachsenen Unbegreifliches/Unzugängliches.
LJ: Der Vater des Jungen mit dem gebrochenen Bein bleibt mit seinem Sohn zu Hause, es entsteht eine Situation, in der der Junge glaubt, jemand rufe draußen nach ihm, obwohl sie weit entfernt von anderen Häusern leben. Es ist der Vater, der beim Sohn den Eindruck erweckt, jemand rufe nach ihm. Wie der Sohn es erlebt, wird nicht direkt gesagt. Ich weiß nicht, wie viel ich darüber sagen soll, jedenfalls wusste ich von Anfang an, dies würde große Bedeutung für das Buch haben.
Hier sind verschiedene Formen des Mangels und des Vermissens im Spiel. Man könnte sagen, der Tod der Mutter konstituiert eine Rahmenerzählung. Ein Kritiker schrieb: Sie wohnen in Fors, und er denkt an den Mars – tauscht man die Vokale aus, erhält man Mors [schwed.: der Mutter] und Fars [schwed.: des Vaters]. Bei einer Lesart wie dieser begreift man, dass man als Autor nicht alleiniger Schöpfer des Textes ist. Hätte ich das selbst bemerkt, hätte ich den Namen des Ortes auf der Stelle geändert.
AL: Das Verhältnis des erwachsenen Erzählers zum Vater ist distanziert – eine Form der Gleichgültigkeit?
LJ: Ich würde es nicht Gleichgültigkeit nennen; eher einen perversen Respekt bei beiden, Vater und Sohn, vor der Integrität.
AL: So, wie wir den Erzähler kennen lernen, scheint er von unklaren Wünschen und nicht verheilten Wunden geprägt zu sein. Die Darstellung der Zeit zeigt, wie sein Bewusstsein an anderes anknüpft als die Gegenwart. Auch das Familiendreieck ist zentral. Doch die Rückblicke konzentrieren sich nicht auf ein psychologisches Modell.
LJ: Ich glaube nicht, dass man Romanpersonen von psychologischen Modellen aus verfassen kann. Dagegen können psychologische Modelle eine Hilfe sein, wenn Personen diskutiert werden, zum Beispiel in einem Interview. Als Kommentar dazu werden im Buch eine Reihe von Fallbeschreibungen zitiert, Auszüge aus Raymond Kimbers „The Children of the Void“: der Objektmensch, der Messermensch, der Kleine-Schwester-Mensch. Sie sind Facetten und Spiegelungen der verschiedenen Situationen, in denen sich der Erzähler befindet.
AL: An einer Stelle im Roman wird das Phantasieren anderer Welten durch das Schnüffeln von Leim angedeutet. In Deinen Büchern findet man durchgängig eine Verbidnung von Vorstellungskraft und einer fast aufdringlichen körperlichen oder materiellen Ebene. Auch beobachtet man in der Seinsweise der Personen oft einen Mangel oder eine Leere, für die sie keine Erklärung und keine Lösung haben. Im Unterschied zu Schriftstellern einer eher avancierten Phantastik scheinst Du Deine Figuren nicht vor dem Schreiben zu ‚reinigen’.
LJ: Findest Du das ‚schmutzig’? Ja, vielleicht. Es geht darum, die Geschichte auch im Detail zu verankern. Ich schreibe ja nicht über merkwürdige Menschen in merkwürdigen Welten. Wenn die Erzählung ihren Ausgang im Alltäglichen nimmt, braucht es gar keine so großen Berührungen mit dem Phantastischen, um die Vertrautheit zum Kippen zu bringen.
AL: Der Mars in „I den Röda Damens slott“ stimmt nicht nur mit dem Mars überein, wie wir ihn kennen, sondern verhält sich anachronistisch zur Behandlung des roten Planeten durch SF. Ich denke insbeseondere an Kim Stanley Robinsons Mars-Trilogie vom Anfang des 20. Jahrhunderts – Robinson scheint seine Bücher als Beitrag zu einem erneuerten Pioniergeist zu betrachten, indem er eine zukünftige erdartige Ausformung des Mars beschreibt. Was denkst Du über eine Literatur mit einer solchen Ausrichtung?
LJ: Falls wir den Mars kolonisieren sollten, könnten Robinsons Bücher sicher eine gute Handreichung sein. Sie sind klassische ‚hard science fiction’, sowohl in technischer wie in gesellschaftlicher Hinsicht. Mein Mars-Roman ist wohl eher aus nostalgischer Perspektive geschrieben, bei der man träumend die Sterne betrachtet. Im Roman heißt es ja auch: ‚ Den Mars zu erobern heißt, den Mars zu verlieren.’ Teils, weil der Traum Alltag wird. Aber zum Teil auch, weil mein Mars auf das gebaut ist, was man in den 1950er und 1960er Jahren meinte, über den Mars zu wissen, über Atmosphäre und Luftdruck, Magnetfeld und Temperaturverhältnisse. Doch das ist vielleicht keine Antwort auf die Frage. Robinsons Bücher sind, nach meiner Ansicht, allzu instrumentell, auch wenn heutige SF kaum besser ist als seine Bücher. Ansonsten ist Robinsons interessantester Text die lange Erzählung über die Besteigung des Riesenvulkans Olympus Mons, das größte Gebirge des Sonnensystems. Auch wenn der Titel in einem der Romane der Trilogie wiederkehrt, spielen die Erzählungen nicht auf demselben Mars. Nichts desto weniger ist die Erzählung eine Art Kommentar zu den großen Fragen der Trilogie: mit welchem Recht verwandeln die Menschen den Planeten, und welche Probleme entstehen, wenn wir eine signifikant verlängerte Lebensdauer erlangen?
AL: Bis jetzt haben wir vor allem über Deine letzten beiden Romane gesprochen. Du hast aber auch mehrere Erzählbände geschrieben. Im jüngsten, „Berättelser om djur och andra“ (Erzählungen über Tiere und Andere), ist ein Text fast 200 Seiten lang.
LJ: Die Frage war, ob das Buch als eine Erzählsammlung erscheinen sollte oder aufgeteilt werden in Erzählungen und einen Roman. Aber für mich war auch der lange Text eine Erzählung und die Sammlung ein Ganzes. Man redet über Roman und Erzählung oft in entgegen gesetzten Begriffen: der Roman ist lang, die Erzählung kurz, der Roman mehrstimmig, die Erzählung einstimmig. Wenn ich hier mit dem Erzählformat breche – was ist das dann für ein Text? Ich selbst habe erlebt, dass der Roman ein eher vollständiger und dabei stärker geschlossener Raum sein kann, während die Erzählung offener ist, mehr zulässt zwischen Autor und Leser.
Wenn ich einen Text schreibe, weiß ich ziemlich schnell, welches Format er haben wird. Am längsten dauert es, ist mich selbst zu überzeugen, dass ich recht habe. Eine Idee gibt nur eine begrenzte Menge Stoff her, wenn sie zugleich ihre Suggestivkraft behalten soll. So etwa Teil zwei von „I den Röda Damens slott“, der zuerst als ein ganzer Roman gedacht war. „Pumpan“ (Die Pumpe) begann als Erzählung für „Menageri“ (Menagerie). Was dies entscheidet? In Schreibkursen bekommt man oft die Frage gestellt: Wie schreibt man lang? Ich weiss es nicht. Ich weiss weder, wie man lang schreibt, noch wie kurz. Ich weiss nur, dass jede Erzählung einen bestimmten Umfang hat.
AL: Auch „Berättelser om djur och andra“ (Erzählungen über Tiere und Andere) ist ein komplexes Buch, durch die Erzählweise und durch die fremdartigen Umgebungen, die beschrieben werden. Über die längste Erzählung schrieb die Kritikerin Maria Edström, sie zu lesen wäre, „als ob man sich durch einen Ziegelstein graben oder sich durch ein Stück Metall hindurch beißen würde, während es nach Benzin riecht.“ Nach beendeter Mahlzeit war sie allerdings zufrieden. Dieser Text, „Nians nätt över trapetsen“ (Nians Netz über dem Trapez), geht sehr weit darin, mit der Stimme der erschaffenen Welt zu sprechen: die Lektüre wird zum sehr fein eingestellten Ablesen eines Musters, weiter getrieben eher von einer Verwunderung als von der Meisterung des Textes. Diesen erlebt der Leser anfangs als undurchdringlich, aber nach und nach wird er klarer und erreicht auf den letzten Seiten eine extreme Verdichtung. Wie hast Du Dich zu dieser Erzählweise vorgearbeitet, und warum hast Du sie beibehalten?
LJ: Wie üblich: wie müsste die Geschichte erzählt werden? Und was ist die Geschichte? Dieses Probleme müssen ja immer gelöst werden, allerdings schien mir die Geschichte in diesem Fall keine glaubwürdige Erzählperspektive geben zu wollen. Diejenige, die erzählen könnte, war tot. Diejenigen, die lebten, verfügten nicht über alle Fakten. Und wenn ich die Überzeugung beibehalten wollte, dass der Leser in der ein oder anderen Weise die geschaffene Welt teilen müsste, dann hatte ich mich wirklich in eine Klemme gebracht, weil er oder sie ja ebenfalls von jenem Identitätswandel betroffen werden müsste, den ich die Menschheit durchmachen lasse. Alles, was Du undurchdringlich nennst, ist für mich die Konsequenz aus der durch das Grundproblem gestellten Forderung an den Text. Ich kann einfach nicht erkennen, wie diese Geschichte anders hätte erzählt werden können. Was die ‚feingestellte Mustererkennung’ angeht: das wäre doch wohl eine vortreffliche Art zu lesen? Es erinnert mich zumindest an die Art, wie ich als Kind gelesen habe, Bücher für Erwachsene. Außerdem glaube ich, dass wir ohnehin häufig zu dieser Art des Lesens gezwungen werden. Gedichte, Mangas, Klassiker aus dem 16. Jahrhundert. Texte aus anderen als englischsprachigen Kulturen. Fremdsprachige Texte. Es sollte keine ungewöhnliche Art zu lesen sein.
AL: Die Erzählung kreist um Gunilla, die in der Text-Gegenwart verschwunden ist. Was bei ihr zuerst wie eine systematische Suche im Internet nach körperverändernden Praktiken erscheint, erweist sich nach und nach als Teil eines größeren Projekts. Eine ungewöhnliche Form von Hauspilz ist hier ein wichtiges Element. Dabei stellt die Erzählung einige überraschende, aber auch vertrauenswürdige Koppelungen zwischen Technologie, organischem Leben und der Frage nach dem individuellen und dem kollektiven Bewusstsein her. Am Ende verkörpert Gunilla sozusagen eine biotechnologische Version von Freuds ‚ozeanischem Gefühl’, indem sie aufgeht in oder sich vereint mit ‚wannas’, einer Form von weltumspannendem Wesen. Was meinst du selbst, was diese Erzählung darstellt?
LJ: Die Erzählung ist der Versuch zu verstehen, wie sich die Kommunikation mit einem artfremden, nicht-menschlichen Bewusstsein ausnehmen könnte. Das Bewusstsein ‚wannas’ kennt nur Ausdehnung und Temperatruunterschiede, ‚wannas’Welt besteht ausschließlich aus ‚wannas’. Der Myoelektriker zieht ein ‚Nians-Netz’ [?] über Gunillas Trapezmuskel und platziert ein Kontaktstück in ihrem Handgelenk. Wenn sie ihr Nervensystem an das ‚wannas’ knüpft, spaltet sich ‚wannas’ Welt in zwei Teile: ‚wannas’ und Nicht-‚wannas’. Bei diesem Aufeinandertreffen akzeptiert ‚wannas’ Gunillas Sprache, in der Pronomen eine wichtige Rolle spielen. Doch ‚wannas’ Verständnis der Pronomenunterteilung wird nicht zu einem Ich und einem Du, ‚wannas’ hat ja nie ein Ich-Bewußtsein gehabt, weil es nie ein Du gab, zu dem es sich hätte verhalten können. ‚wannas’ versteht Menschen als ein ‚wannas’ mehr, das aber kein ‚wannas’ ist’, das heißt eine Art Dritte Person. In derselben Weise, in der Gunilla Sprache und Begriffe an ‚wannas’ vermittelt, antwortet ‚wannas’ uns mit seiner Sprache. Wir verändern uns und ‚wannas’ verändert sich; eine Gegenseitigkeit, wie sie sich in jeder wirklichen Kommunikation findet. Dass eine Erzählung wie diese eine Reihe von Fragen und Deutungen hinsichtlich Geschlecht, Identität, Macht, Leben vs. Nicht-Leben aufwirft – das ist der große Spaß daran, Schriftsteller zu sein.
AL: Gunillas Suche nach Eingriffen in den Körper bringt sie in Kontakt mit sexuellen Subkulturen, etwa von Amputationsfetischisten und ‚The Church of Body Modification’. Der Hundmann Mling gehört zur ersten Gruppe. Während im Text unterschiedliche Neigungen und Praktiken geschildert werden, gibt es gleichzeitig eine Diskussion darüber, welche Konsequenzen die generelle kulturelle Sichtbarmachung sexueller Andersartigkeit hat: ob sie denjenigen, die es betrifft, zugute kommt, oder ob es sich eher um die Unterschiede verwischende Medienmechanismen handelt oder um den Voyeurismus des Durchschnittsmenschen. Wie siehst du deinen eigenen Text, deine Wahl der Motive, im Verhältnis zu dieser Diskussion?
LJ: Die Körpermodifikation nahm ich in die Erzählung hinein, weil Gunillla einen Eingriff in ihren Körper vornehmen musste, um mit ‚wannas’ in Kontakt zu kommen. Meine persönliche Begegnung mit dieser Kultur führte dazu, dass die Grundidee der Erzählung in den Hintergrund trat, die neue Faszination einen Roman von 300 Seiten abwarf und die Herausgabe des Erzählungsbandes sich um ein Jahr verzögerte. Mein Verhältnis zu diesem Problem: dass es nicht meines ist. Ich kann nicht mehr sein als ein neugieriger Tourist. Der Roman – den ich aufgegeben habe – war keine ‚freak show’, ich schrieb ihn mit demselben Respekt, den ich für Mling und das Schlangenmädchen in „Nians nät över trapetset“ habe. Aber wer bin ich denn, dass ich eine Toleranz schaffe für etwas, von dem ich nicht einmal selber sagen könnte, ob ich es tolerieren würde? Um dann gegebenenfalls eine Kritik lesen zu müssen, die mit dem gleichen liberalen Mangel an Wissen meine eigene Toleranz oder ihren Mangel bewertet? Nein. Wohlwollen kann auch ein Machtmittel der Zurückweisung sein.
LJ: In der Erzählung „Människor jag känt som aldrig blev poeter“ (Bekannte, die niemals Dichter wurden) folgen wir zwei Polizisten, die Nachforschungen in einem Tötungsdelikt mit einem Auto betreiben. Auf ihrer Spurensuche besuchen sie Dimman, eine Gegend in Montana, wo das Fernsehnetz Signale mit Stimmen aus der nahen Vergangenheit und der nahen Zukunft empfängt. Man kann gewissermaßen Menschen in einer vergangenen und in einer künftigen Welt belauschen. Einige Polizisten betrachten dieses Abhorchen als gutes Mittel für ihre Berufsausübung. Allerdings herrschen Zweifel daran, was für Spuren und Beweise dies ergibt. Ein Baudelaire-Zitat im Text beschreibt das gut: es sind „Echos aus fernen Regionen, die zu einer Einheit von dunkler und tiefer Substanz zusammenfließen“. Verwischt wird die konventionelle Unterscheidung zwischen dem rationalen Ziel von Nachprüfbarkeit und Widerspruchsfreiheit und einem eher hermetischen Sinn, der aus Ähnlichkeiten und Korrespondenzen entsteht.
LJ: Manchmal habe ich das Gefühl, als ob die Wirklichkeit eine lyrische Ästhetik erfordert, eine dramatische Intrige, also einen Sinn, den das Gedicht durch Komposition und Rhythmus zum Ausdruck bringt. Das Ergebnis wird hier und da recht merkwürdig. ‚Katrina’ trifft New Orleans wie ein Werk von Großfinanz und korrupten Politikern. Wegen eines Fehlers der schwedischen Außenministerin Laila Freivald brandete der Tsunami gegen Thailands Strände. Das Estonia-Unglück muss immer aufs Neue untersucht werden, bis eine Verschwörung und ein Attentat bewiesen werden können. Die Erzählung sollte damit spielen. Diejenigen, die keine Dichter wurden, wurden statt dessen Polizisten in Montana.
AL: Die Erzählung schließt damit, Poe anzurufen: „Und in ‚Eureka’, vor mehr als einhundertfünfzig Jahren, lieferte Poe eine Erklärung für das Dunkel des Nachthimmels zwischen den Sternen.“ Das ist der letzte Satz, offenbar ohne Anknüpfung an das Ende der Erzählung. Als ich das las, dachte ich über das Zusammenspiel des Titels mit dem Vorwort in Poes „Eureka“ nach, seinem letzten Werk, das er – in einer Periode mit starken Alkoholdelirien – den Träumern widmete. Oder wie er schreibt: „the few who love me and whom I love – to those who feel rather than those who think – to the dreamers and those who put faith in dreams as in the only realities – I offer this book of Truths, not in ist character of Truth-Teller, but fort he Beauty that abounds in ist Truth; constituting it true. To these I present the composition as an Art-Product alone: – let us say as a Romance; or, if I be not urging too lofty a claim, as a Poem“. Dies in einem Werk, das seriöse wissenschaftliche Ansprüche hatte und heute im Ruf steht, kosmologischen Theorien vorauszugreifen.
LJ: „Eureka“ habe ich nie gelesen, aber einen Artikel über die Dunkelheit zwischen den Sternen. Es gibt ja eine unendliche Anzahl Sterne, und selbst wenn einige von ihnen ungeheuer weit weg sind, sollte man meinen, ihr Licht müsste uns erreichen, so dass der ganze Himmel hell wäre. Jetzt wissen wir allerdings, dass die Dunkelheit sich der Rotverschiebung verdankt. Poe wusste nichts über diese Theorie, doch er dachte sich den Weltraum derart groß, dass das meiste Sternenlicht uns einfach noch nicht erreicht hätte. Anfangs hatte ich einen abschließenden Satz zur Rotverschiebung in meiner Erzählung, dann schrieb ich statt dessen das Zitat von Poe hinein. Es passte besser zum Plan der Erzählung und zu ihrem Titel. Aber wenn Du ein gutes Zitat weißt, dann war das natürlich es, was ich im Kopf hatte…
AL: Du hast für die Tageszeitung „Svenska Dagbladet“ einen Artikel über die Terrorangriffe vom 11. September 2001 geschrieben: „Vidöppet för spekulation“ (11. 9. 2004; Weitgeöffnet für Spekulationen). Darin gehst du die Berichterstattung über Bin Laden, Al Qaida und den internationalen Terrorismus in der schwedischen Presse vor diesem Tag durch – und findest nichts, hingegen, dass danach diejenigen, die alles für vorhersagbar hielten, Schlange standen. Am Ende des Artikels werden gewissermaßen Interventionen der Vorstellungskraft skizziert, verbunden mit der Frage, wie es wäre, wenn Medien und Fiktionen uns nicht nur das erzählten, was wir bereits zu wissen glauben.
LJ: Der Artikel beschreibt, wie dem Ereignis im Großen und Ganzen auf zwei unterschiedliche Weisen begegnet wurde: mit Bestürzung und mit Bestätigung. Beide sind zur Analyse wie zur Erklärung nutzlos.
Die Bestürzung war vielleicht das Interesantere. Zu sehen, wie Terrorexperten, Journalisten, Filmkritiker auf einmal lautstark ihre Fachkenntnisse verleugneten: Niemand habe das voraussehen können. Etwas Ähnliches habe es noch nie gegeben. Nicht einmal Hollywood habe uns vorgewarnt. Alles Quatsch. Hollywood hat es uns 1998 mit „The Siege – Ausnahmezustand“ vorgeführt. NORAD hat im Laufe der 90er Jahre viele Szenarien vorgelegt, in denen entführte Flugzeuge in Atomkraftwerke oder Staudämme stürzen. Und tatsächlich wurden Entführungen mit der Absicht, Flugzeuge als fliegende Bomben zu benutzen, versucht.
Die Bestätigung impliziert natürlich, dass die USA an der Untat selbst schuld waren – wie man sich bettet, so liegt man. Chile, Vietnam, der Golfkrieg, all das wurde plötzlich zu Ursachen, unabhängig von der Relevanz. Schriftsteller wie Jan Guillou, Jan Myrdal, Henning Mankell, Herman Lindqvist, John Pilger, Naomi Klein und andere konnten nun die hundertste Version ihre allseits bekannten USA-Kritik vorbringen, ohne dass sie auf die Terroristen, als reale Personen, irgendwie Bezug nehmen brauchten, auf deren Überzeugungen und Denkweisen. Diese beiden Haltungen – der Bestürzung und der Bestätigung – basieren auf einer Fiktionalisierung der Wirklichkeit. Das Problem dabei ist, dass es sich um triviale Fiktionen handelt. Ein Mangel an Wissen geht einher mit den Vereinfachungen schlechter Fiktion. Die Bestürzten haben nicht sehen wollen, was wirklich geschah, sondern es durch Wunschdenken ersetzt. Die Bestätigten haben von Anfang an geschichtsdeterministische Theorien gebastelt, in denen alles nivelliert ist und Menschen keine Bedeutung haben.
AL: Hat diese einfache Narration eine mythische Struktur?
LJ: Ich weiß nicht, ob ich das Wort mythisch verwenden würde. Aber erschreckend vieles im Journalismus wird durch eine schon im voraus festgelegte Form der Erzählung bestimmt. Und dann drehen wir uns im Kreis und fordern eine Fiktion, welche die Wirklichkeit nachahmen soll, in Wirklichkeit aber ausschließlich den Journalismus imitiert, die Sprache und die Dramaturgie des Journalismus. Wo die Fiktion doch statt dessen diese Form der Wirklichkeitsbeschreibung in Frage stellen sollte.
Das Einzige, was eine Dramatikerin wie Sarah Kane in ihren zunehmenden Gewalttätigkeiten darzustellen vermag, ist das Weltbild einer erschreckten und sich in Auflösung befindenden Mittelklasse. Es ist das ‚verstopfte’ [?] Bild der Welt. Davon haben wir schon mehr als genug gesehen. Es ist überhaupt ein Fehler, wenn wir sagen, dass wir Bücher lesen möchten, in denen wir uns wiedererkennen. Es ist umgekehrt: Wir müssen Bücher schreiben und lesen, in denen wir uns nicht wiedererkennen.